Das Ende der Zensurproblematik

Forum für Diskussionen um die gesellschaftliche Aspekte des Videospielens in Politik, Wirtschaft und Kultur.
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Vicarocha
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Das Ende der Zensurproblematik

Post by Vicarocha »

Mojen,

wie in meinem Widereinstandsbeitrag kurz erwähnt, arbeite ich hier und da an einer aktualisierten und erweiterten Neuauflage meiner Dissertation von 2013 (für die, die sie vergessen haben oder gar nicht kennen: [url]http://publications.rwth-aachen.de/reco ... s/4847.pdf[/pdf]), primär einfach deshalb, weil es mir Spaß macht (und ich das wissenschaftliche Arbeiten ansonsten etwas vermisse).

Nun wird aber regelmäßig angeführt - und wurde mir auch schon direkt entgegnet -, dass wir in den letzten Jahren eine gewisse Liberalisierung des dt. Jugendmedienschutzes beobachten könnten, insb. auch bei Computerspielen, d.h. immer mehr Indizierungen/Beschlagnahmen werden aufgehoben, immer weniger Spiele werden überhaupt erst indiziert/beschlagnahmt und immer mehr Spiele erhalten eine Kennzeichnung der USK (resp. der OLJB) undd das, was früher mit ziemlicher Sicherheit indiziert/beschlagnahmt worden wäre, ist nun ganz normal auf dem Markt zu finden. Die kuriosen (Selbst-)Zensurphänomene der Vergangenheit seien eben genau das, Vergangenheit... und folglich wäre auch meine Diss. und wären ähnliche Publikationen, hinfällig.

Ich möchte da widerspechen.

Wenn bspw. die BPjM heutzutage einmal Thema in den Medien ist, ist oftmals insb. ihre Geschichte von Interesse. Da wird dann mit einem lachenden und einem weinenden Auge leicht schmunzelnd erwähnt, dass ja früher bspw. "Sigurd"-Comics oder Ausgaben der "BRAVO" indiziert wurden. Da wird dann Arbeit verniedlicht, die damals u.U. Existenzen vernichtet hat, was ich generell weniger witzig finde. Viel wichtiger aber ist, dass m.M.n. Lobgesänge auf eine Trendwende, auf die Liberalisierung im Umgang mit (fiktionale) Gewalt darstellenden Filmen und Computerspielen aus folgenden Gründen verfrüht erscheinen (ich zitiere mal frei - und in reduzierter Form - aus der Zweitauflage meiner Diss.):

1. Die Deindizierung und Entschlagnahmung minimiert das mit der ursprgl. Maßnahme einhergehende Straf- und Existenzrisiko und den Imageschaden für die Betroffenen nicht oder nicht hinreichend. Auch erfolgt eine solche Aufhebung i. d. R. erst nach Jahren, was weitere finanzielle Probleme und die Gefahr der Stigmatisierung der Betroffenen birgt. Zudem wird auch den Rezipienten der Bezug der Medien erschwert bis (insb. bei älteren Medien) unmöglich gemacht. Der Klageweg setzt auch voraus, dass noch ein klageberechtigter und -interessierter Betroffener existiert und nicht bereits aus dem Markt ausgeschieden ist.

2. Ob etwas indizierungs- und ggf. auch beschlagnahmewürdig ist, ist primär eine Frage der idiosynkratischen Geschmäcker, Weltanschauungen, Medienkompetenzen, Menschenbilder, Moralvorstellungen, Wirkungsvermutungen und Indignationen der jeweiligen Entscheider, d. h. eine von einer Maßnahme der Kulturhygiene faktisch nicht unterscheidbare Willkürentscheidung. Das ist undemokratisch.

3. Damit sorgt die pure Existenz beider Maßnahmen nach wie vor für Rechtsunsicherheiten, für eine Schere im Kopf der Betroffenen. Weil für die Betroffenen nicht klar ersichtlich ist, welche Inhalte zu einer Indizierung oder Beschlagnahme führen, lähmen diese Maßnahmen das Geistesleben und nötigen zu vorauseilendem Gehorsam. Damit schaden sie einer liberalen, pluralistisch-demokratischen Gesellschaft und der produktiven und rezeptiven Kunst- und Kulturlandschaft, dem Ansehen der BRD und deren internationaler Wettbewerbsfähigkeit.

4. Jugendmedienschutz und Strafrecht geben sich der Lächerlichkeit preis: In Deutschland indizierte und beschlagnahmte Medien können im EU-Ausland auch von Minderjährigen erworben werden und die anomischen Wirkungsvermutungen, die hierzulande der Legitimation dieser Maßnahmen dienen, bewahrheiten sich nicht. Auch sind diese Wirkungsvermutungen selbst für Laien offensichtlich fehlsam. Nicht zuletzt können indizierte und beschlagnahmte Medien problemlos auch von dt. Minderjährigen aus dem Ausland bezogen, so dass diese Maßnahmen als offensichtlich wirkungslos wahrgenommen werden können.

5. Beim Gros der Aufhebungsbeschlüsse und -entscheide wird seitens der Gerichte und der BPjM nicht eingeräumt, dass es sich ursprgl. um Fehlurteile gehandelt hat, wie in meiner Diss. demonstriert wurde. Vielmehr rabulisiert man, dass die Aufhebung deshalb erfolgen konnte, weil Darstellungen "nach heutigen Maßstäben mangels gewaltverherrlichenden Inhalts nicht gegen § 131 StGB" verstießen oder weil "Gewaltszenen nach heutigen Maßstäben weder als detailliert noch als realistisch/realitätsnah einzustufen" seien. Die Maßstäbe des § 131 StGB haben sich aber im Wesentlichen nicht geändert und jeder Beschlagnahme ist inhärent, dass diese Aufgrund eines vmtl. objektiven und damit allzeitigen Erklärungswerts der Medieninhalte erfolgt sei. Und bei Indizierungen muss bzgl. der Gewaltszenen gesagt werden, dass sie im konkreten Kontext entweder zeitunabhängig realistisch/realitätsnah sind oder aber nicht. Mit Blick auf den Wesensgehalt der zugrundeliegenden Beschlagnahme- und Indizierungskriterien argumentativ derart inkonsequente Aufhebungen perpetuieren die skizzierten Rechtsunsicherheiten lediglich und dekuvrieren Beschlagnahmen nach § 131 StGB und Indizierung zusätzlich als Willkürmaßnahmen.

6. Als Willkürmaßnahmen sind Beschlagnahmen nach § 131 StGB und Indizierung i. V. m. der Subjektivität des Rezeptionsprozesses damit vom Zeitgeist und insb. von den Idiosynkrasien der jeweiligen Entscheider in den Gerichten und in den Gremien der BPjM abhängig, nicht von objektiven Inhalten der betroffenen Medien selbst; dgl. gilt natürlich für die Alterskennzeichnungsverfahren der OLJB. Entsprechende Wechsel bei den Entscheidern resp. eine Reihe entsprechender Gremienzusammensetzungen vorausgesetzt, sind Beschlagnahme- bzw. Indizierungswellen wie in der Vergangenheit nicht ausschließbar, sondern eine Personalfrage.

Neben der fehlenden medienwirkungstheoretischen Legitimation des deutschen Jugendmedienschutzes sind das mit die Hauptprobleme, die ich mit diesen Maßnahmen habe. Im Grunde gibt es nichts, was uns vor einer neuen Indizierungs- und Beschlagnahmewelle schützt. Zwar mag sich das Mindset des aktuellen Personals geändert haben, nicht aber das Instrumentarium. Man muss nur wieder entsprechende Leute ans Ruder lassen, dann geht es wieder bergab.

In dem Zusammenhang möchte ich folgendes anmerken: In der letzten Repräsentativumfrage zur Verankerung des Wertes der Freiheit in der deutschen Bevölkerung des John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung e. V. antworteten 50 % der Bevölkerung ab sechzehn Jahren selbst noch 2017 Auf die Frage, "Einmal unabhängig davon, ob das tatsächlich verboten ist oder nicht: Was meinen Sie, was sollte der Staat in jedem Fall verbieten, wo muss der Staat die Menschen vor sich selber schützen?", dass "Filme, Videos, Computerspiele mit vielen Gewaltdarstellungen" verboten werden sollten. Man beachte, dass hier von Verboten, nicht von Altersbeschränkungen o.ä. die Rede war. Das macht das ganze Thema nach wie vor brandaktuell.

Bzgl. der FSK/USK finde ich auch nicht, dass ihre Kennzeichnungen konstruktiv für ihren tatsächlichen Zweck sind, wenn dieser tatsächliche Zweck denn eine Orientierungshilfe für die Erziehungsberechtigten sein soll: M.M.n. könnten Erziehungsberechtigte auch gleich würfeln, ob sie einen Film oder ein Spiel ihren Zöglingen zumutuen oder nicht, statt sich an den Alterskennzeichen zu orientieren. Diese sind m.E. insgesamt Willkürlabels (s. meine diesbzgl. Ausführungen in Kap. 12 und 13 meiner Diss.), die den Erziehungsberechtigten allenfalls suggerieren, etwas pädagogisches getan zu haben, das beißt sich aber mit deren Erziehungspflicht (bei PEGI wissen die Eltern wenigstens, warum welches Label auf welchem Spiel ist, das ist bei der USK vollkommen opak).

Lange Rede, kurzer Sinn:
Wie seht ihr das? Ist die letzte Schlacht geschlagen und können wir uns beruhigt zurücklehnen oder nicht? Gibt es Probleme, die ich übersehen habe?
Last edited by Vicarocha on Thursday, 30. January 2020, 19:51, edited 1 time in total.
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P1NKAC1D
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Re: Das Ende der Zensurproblematik

Post by P1NKAC1D »

Alles in allem sehe ich es ziemlich ähnlich wie du: Zwar hat sich natürlich schon viel verbessert, es kommt heute viele Sachen unzensiert durch, die früher GARANTIERT direkt auf dem Index gelandet wären (ich erinnere mich immer noch stark daran, wie damals z.B. Dead Space und danach The Evil Within unzensiert erschienen), und es liest sich einfach toll, wenn in der monatlichen Liste auf Schnittberichte.com fast nur noch Listenstreichungen und kaum noch Neudinizierungen zu lesen sind. Zudem hat sich die Thematik dank des Internets größtenteils erledigt, denn an unzensierte Medien zu kommen ist dank Onlineshops, Auktionshäusern und Downloaddiensten heute wortwörtlich babyleicht - vor 20 Jahren hatte ich da deutlich größere Hürden, an mein Zeug zu kommen.

Vorbei ist es aber mit Sicherheit noch lange nicht. "Jugendschutz" ist an vielen Stellen nach wie vor eher Erwachsenenbevormundung und nicht selten ziemlich willkürlich.
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cybdmn
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Re: Das Ende der Zensurproblematik

Post by cybdmn »

Für's erste haben "wir" gewonnen. Aber neben dem Risiko, dass die vielleicht doch noch einmal ihre Meinung ändern, eventuell weil die Grafik noch realistischer geworden ist, bleibt der Umstand, dass die schon beim nächsten neuen Medium wieder genau so reagieren.
Man kennt diese mehr auf einem unbestimmten gesellschaftlichen Moralkompass als wissenschaftlicher Arbeit basierende "Verbieterei" ja schon seit Menschengedenken, und besonders im 20. Jahrhundert war das ja bestens zu sehen. Unterschiedliche Regierungs- und Herrschaftformen, führten zu diversen unterschiedlichen Massnahmen, inklusive Bücherverbrennungen, und dem Verdammen von "entarteter Kunst". Jazz liess die Jugend verlottern, wie später der Rock n Roll, der Blues, der Metal (der auch noch Satanisten aus den Kids machte), Hip Hop. Filme waren schlecht, Comics gefährlich.
Es gab quasi kein Medium, und keine kulturelle Strömung, der man nicht erst einmal mit Misstrauen und (Verbots)aktionismus entgegen trat.

Fazit: Diese Problematik ist noch lange nicht zu Ende, und wird es vermutlich auch noch lange nicht sein.
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Motoko
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Re: Das Ende der Zensurproblematik

Post by Motoko »

Vicarocha wrote: Entschlagnahmung
Homer sacht: erweitert euren Wortschwatz!

"Entschlagnahmung", was für ein Begriff... :blueeye:
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zombie-flesheater
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Re: Das Ende der Zensurproblematik

Post by zombie-flesheater »

https://www.anime2you.de/news/364732/st ... utschland/

Immerhin scheint man sich jetzt auf ein anderes Opfer eingeschossen zu haben. :blueeye:
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cybdmn
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Re: Das Ende der Zensurproblematik

Post by cybdmn »

cybdmn wrote: Thursday, 30. January 2020, 19:43 Fazit: Diese Problematik ist noch lange nicht zu Ende, und wird es vermutlich auch noch lange nicht sein.
zombie-flesheater wrote: Thursday, 6. February 2020, 14:00 https://www.anime2you.de/news/364732/st ... utschland/

Immerhin scheint man sich jetzt auf ein anderes Opfer eingeschossen zu haben. :blueeye:
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Re: Das Ende der Zensurproblematik

Post by Kirk »

Ich hatte ja die Befürchtung, dass VR ein Problem für die USK sein könnte, wegen diesen Mittendrin-Gefühl. :| Wenn man bei Resident Evil 7 in VR den Arm abgesägt bekommt ist das schon ziemlich heftig. :shock:
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zombie-flesheater
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Re: Das Ende der Zensurproblematik

Post by zombie-flesheater »

Kirk wrote: Saturday, 8. February 2020, 19:16 Ich hatte ja die Befürchtung, dass VR ein Problem für die USK sein könnte, wegen diesen Mittendrin-Gefühl. :| Wenn man bei Resident Evil 7 in VR den Arm abgesägt bekommt ist das schon ziemlich heftig. :shock:
"Passive" Gewaltdarstellung, zudem noch in ein Fantasyszenario eingebunden, ist spätestens inzwischen kaum ein Problem - problematischer ist da die Gewaltdarstellung die aktiv vom Spieler ausgeht, ggfs. gegen Hilflose, Zivilisten, Kinder etc. (Hatred, MW2 etc.) und sich ggfs. alles in einem realitätsnahen Szenario abspielt.
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SAL
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Re: Das Ende der Zensurproblematik

Post by SAL »

Also im Grunde hätten beide Seiten sich all den Scheiss auch sparen können.
Eine temporäre "Wegschliessung" von Medien um sie dann nach einer Generation (20 Jahre) sie eh wieder freizulassen.

Aber irgendwie müssen die ganzen Trottel ja ihren Job rechtfertigen.

Einfach nur lächerlich...
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Kaysa
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Re: Das Ende der Zensurproblematik

Post by Kaysa »

Kirk wrote: Saturday, 8. February 2020, 19:16 Ich hatte ja die Befürchtung, dass VR ein Problem für die USK sein könnte, wegen diesen Mittendrin-Gefühl. :| Wenn man bei Resident Evil 7 in VR den Arm abgesägt bekommt ist das schon ziemlich heftig. :shock:
Ja, berechtigt!

https://www.youtube.com/watch?v=BUXVJIGH3yk
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P1NKAC1D
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Re: Das Ende der Zensurproblematik

Post by P1NKAC1D »

Heute wurde ein weiterer Klassiker vom Index gestrichen: Heretic flog nach 25 Jahren endlich runter. Auch wenn sich die ganze Zensurproblematik durch das Internet praktisch fast erledigt hat (man kommt so oder so irgendwie dran), doch immer wieder ein schönes Ereignis.

Den Kopf schütteln musste ich allerdings, als ich gesehen habe dass eine alte Cannibal Corpse-Platte folgeindiziert wurde, nämlich das Debutalbum Eaten back to life von 1990... :tee:
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KT
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Re: Das Ende der Zensurproblematik

Post by KT »

Cool. "Heretic" müsste echt langsam mal bei GOG auftauchen. Tausendmal besser "Hexen".
Spiele gerade:
- Tomb Raider 1 (PC)

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